Leben wir in einem Multiversum?
Das All ist nicht alles
von Martin Rees 30.3.2017, 05:30 Uhr
Unermesslich scheint uns schon der Weltraum, der aus «unserem» Urknall entstanden ist. Aber was liegt jenseits davon? Vielleicht ist unser Universum nur eines unter vielen.
Viertausend Lichtjahre von der Erde entfernt strahlt in der Konstellation Puppis einer der heissesten bisher bekannten Sterne. Aber vieles, was das All birgt, entzieht sich einstweilen unserer Kenntnis. (Bild: Granger Collection / Keystone)
Die Vorstellung ist atemberaubend, aber sie ist mittlerweile im Mainstream kosmologischen Denkens angekommen: Die physische Realität könnte um ein Vielfaches grösser sein als das, was wir bis dato «das Universum» genannt haben. Unser kosmisches Umfeld könnte reich gewirkt und vielschichtig sein, aber in so gewaltigen Grössenordnungen, dass unsere Astronomie nur einen winzigen Bruchteil davon erfasst. Im Blick auf diese Dimensionen wären wir so ahnungslos wie ein Planktont, dessen «Universum» ein Löffel voll Wasser ist und das nichts von der Topografie und Biosphäre der Erde weiss. Wir leben vielleicht in einem «Multiversum».
Unser Urknall könnte nur eine Raum-Zeit-Insel in einem grenzenlosen kosmischen Archipel sein.
Wie stark unsere Teleskope auch sein mögen – unser Gesichtsfeld ist immer durch einen Horizont begrenzt, dessen Perimeter der Distanz entspricht, die das Licht seit dem Urknall zurückgelegt hat. Aber rein physisch hat diese Grenze keine Bedeutung. Schon «unser» Urknall könnte einen unvorstellbar riesigen Raum erschlossen haben – aber das ist nicht alles: «Unser» Urknall könnte nur eine Raum-Zeit-Insel in einem grenzenlosen kosmischen Archipel sein.
Mehr als ein Urknall?
Daraus ergeben sich zwei Fragen, die eine Herausforderung für die Physik des 21. Jahrhunderts darstellen. Erstens: Hat es mehrere «Urknalle» gegeben und nicht bloss einen? Zweitens – und noch interessanter: Wenn es mehrere waren, haben überall dieselben physikalischen Gesetze gewaltet? Oder gibt es eine grosse Zahl unterschiedlicher Formen des Vakuums, von denen jede zum Wirkungsfeld für eine unterschiedliche Mikrophysik werden und damit auch verschiedene Formen von Leben generieren kann?
Wenn die Antwort auf diese letztere Frage «ja» lautet, wird es zwar immer noch übergreifende Gesetze geben, die das Multiversum regieren – vielleicht eine Version der Stringtheorie. Aber was wir als allgemeingültige Naturgesetze zu sehen gewohnt sind, würde dann zu einer nur lokal gültigen Unterkategorie von Gesetzen absinken.
Viele Regionen in diesem supponierten kosmischen Archipel könnten Totgeburten sein oder steril; die Gesetze, die sie regieren, könnten von einer Art sein, die keinerlei Komplexität erlaubt. In diesem Sinn wäre unser eigenes Universum nicht typisch; es würde vielmehr zu der ungewöhnlichen Unterkategorie gehören, die im kosmischen Lotto eine Art Glückstreffer gelandet hat – in der Form von Bedingungen, die eine Entwicklung von Komplexität und Bewusstsein ermöglichten.
Ist das noch Wissenschaft?
Manche gehen von der Prämisse aus, dass Dinge, die sich nicht beobachten lassen, auch nicht Gegenstand der Wissenschaft sein können. Aber diese restriktive Sicht lässt sich nicht ohne weiteres rechtfertigen. Beispielsweise müssen wir davon ausgehen, dass es Galaxien gibt, die jenseits unseres Horizontes liegen und die, sofern die kosmische Beschleunigung weiterhin wirkt, auch immer dort bleiben werden. [/url]
Suche nach dem Sinn unseres Lebens
Urknall, Sternenasche und ein Fragezeichen
von Gottfried Schatz19.12.2014, 00:00
[url=https://www.nzz.ch/feuilleton/urknall-sternenasche-und-ein-fragezeichen-1.18448025]
Nicht einmal der konservativste Astronom würde bestreiten, dass diese Galaxien Teil unserer physischen Realität sind, auch wenn wir sie nie werden sehen können. Auch sie sind aus den Nachwirkungen unseres Urknalls entstanden. Wieso sollten sie einen höheren epistemologischen Status geniessen als nicht beobachtbare Objekte, die aus anderen «Urknallen» entstanden sind? So betrachtet ist die Frage, ob es nun einen oder mehrere Urknalle gegeben hat, durchaus wissenschaftlich.
Wenn wir in einem Multiversum leben, dann impliziert das die vierte und grösste kopernikanische Wende.
Vor fünfzig Jahren waren wir nicht sicher, ob es überhaupt einen Urknall gegeben hat (einige Ewiggestrige bestreiten dies immer noch). Heute können wir mit einiger Sicherheit die Geschichte des Kosmos bis zurück zu jener ersten Nanosekunde beschreiben. So ist es auch nicht übertrieben optimistisch, zu hoffen, dass wir in fünfzig Jahren eine «einheitliche», von Experimenten und Beobachtungen in unserer Alltagswelt gestützte physikalische Theorie darüber haben werden, was in jenem ersten Billionstel eines Billionstels einer Billionstelsekunde geschah, als gemäss unseren Annahmen die Ausdehnung begann.
Wenn aufgrund dieser Erkenntnisse mehrere Urknalle möglich scheinen, dann sollten wir diese Annahme ernst nehmen, auch wenn wir sie nicht direkt verifizieren können. Schliesslich werden auch die Annahmen der allgemeinen Relativitätstheorie
Neue kopernikanische Wende
Wenn wir tatsächlich in einem Multiversum leben, dann impliziert das die vierte und grösste kopernikanische Wende. Nach der eigentlichen kopernikanischen Wende kam die Einsicht, dass in unserer Galaxie Milliarden von Planetensystemen existieren; dann diejenige, dass es im beobachtbaren Universum Milliarden von Galaxien gibt. Und das wäre im gesetzten Fall nicht alles: Das ganze Panorama, das unsere Astronomen beobachten, könnte nur ein kleiner Bruchteil dessen sein, was aus «unserem» Urknall entstand – und dieser wiederum wäre nur ein Ereignis in einem möglicherweise unendlichen Ensemble von Urknallen.
Am Ende dieses Jahrhunderts werden wir vielleicht in der Lage sein, mit einiger Sicherheit zu sagen, ob wir in einem Multiversum leben und wie unterschiedlich die Universen sind, aus denen es sich zusammensetzt. Die Antwort auf diese Frage wird entscheiden, wie wir das «lebensfreundliche» Universum zu verstehen haben, das uns beherbergt.
Martin Rees ist emeritierter Professor für Kosmologie und Astrophysik an der University of Cambridge und Fellow des Trinity College; zudem war er Präsident der Royal Society. Sein Buch «Das Universum» erschien 2006 auf Deutsch. Der Text beruht auf einem Aufsatz, den Rees für www.edge.org verfasst hat. – Aus dem Englischen von as.
Quelle
Das All ist nicht alles
von Martin Rees 30.3.2017, 05:30 Uhr
Unermesslich scheint uns schon der Weltraum, der aus «unserem» Urknall entstanden ist. Aber was liegt jenseits davon? Vielleicht ist unser Universum nur eines unter vielen.
Viertausend Lichtjahre von der Erde entfernt strahlt in der Konstellation Puppis einer der heissesten bisher bekannten Sterne. Aber vieles, was das All birgt, entzieht sich einstweilen unserer Kenntnis. (Bild: Granger Collection / Keystone)
Die Vorstellung ist atemberaubend, aber sie ist mittlerweile im Mainstream kosmologischen Denkens angekommen: Die physische Realität könnte um ein Vielfaches grösser sein als das, was wir bis dato «das Universum» genannt haben. Unser kosmisches Umfeld könnte reich gewirkt und vielschichtig sein, aber in so gewaltigen Grössenordnungen, dass unsere Astronomie nur einen winzigen Bruchteil davon erfasst. Im Blick auf diese Dimensionen wären wir so ahnungslos wie ein Planktont, dessen «Universum» ein Löffel voll Wasser ist und das nichts von der Topografie und Biosphäre der Erde weiss. Wir leben vielleicht in einem «Multiversum».
Unser Urknall könnte nur eine Raum-Zeit-Insel in einem grenzenlosen kosmischen Archipel sein.
Wie stark unsere Teleskope auch sein mögen – unser Gesichtsfeld ist immer durch einen Horizont begrenzt, dessen Perimeter der Distanz entspricht, die das Licht seit dem Urknall zurückgelegt hat. Aber rein physisch hat diese Grenze keine Bedeutung. Schon «unser» Urknall könnte einen unvorstellbar riesigen Raum erschlossen haben – aber das ist nicht alles: «Unser» Urknall könnte nur eine Raum-Zeit-Insel in einem grenzenlosen kosmischen Archipel sein.
Mehr als ein Urknall?
Daraus ergeben sich zwei Fragen, die eine Herausforderung für die Physik des 21. Jahrhunderts darstellen. Erstens: Hat es mehrere «Urknalle» gegeben und nicht bloss einen? Zweitens – und noch interessanter: Wenn es mehrere waren, haben überall dieselben physikalischen Gesetze gewaltet? Oder gibt es eine grosse Zahl unterschiedlicher Formen des Vakuums, von denen jede zum Wirkungsfeld für eine unterschiedliche Mikrophysik werden und damit auch verschiedene Formen von Leben generieren kann?
Wenn die Antwort auf diese letztere Frage «ja» lautet, wird es zwar immer noch übergreifende Gesetze geben, die das Multiversum regieren – vielleicht eine Version der Stringtheorie. Aber was wir als allgemeingültige Naturgesetze zu sehen gewohnt sind, würde dann zu einer nur lokal gültigen Unterkategorie von Gesetzen absinken.
Viele Regionen in diesem supponierten kosmischen Archipel könnten Totgeburten sein oder steril; die Gesetze, die sie regieren, könnten von einer Art sein, die keinerlei Komplexität erlaubt. In diesem Sinn wäre unser eigenes Universum nicht typisch; es würde vielmehr zu der ungewöhnlichen Unterkategorie gehören, die im kosmischen Lotto eine Art Glückstreffer gelandet hat – in der Form von Bedingungen, die eine Entwicklung von Komplexität und Bewusstsein ermöglichten.
Ist das noch Wissenschaft?
Manche gehen von der Prämisse aus, dass Dinge, die sich nicht beobachten lassen, auch nicht Gegenstand der Wissenschaft sein können. Aber diese restriktive Sicht lässt sich nicht ohne weiteres rechtfertigen. Beispielsweise müssen wir davon ausgehen, dass es Galaxien gibt, die jenseits unseres Horizontes liegen und die, sofern die kosmische Beschleunigung weiterhin wirkt, auch immer dort bleiben werden. [/url]
Suche nach dem Sinn unseres Lebens
Urknall, Sternenasche und ein Fragezeichen
von Gottfried Schatz19.12.2014, 00:00
[url=https://www.nzz.ch/feuilleton/urknall-sternenasche-und-ein-fragezeichen-1.18448025]
Nicht einmal der konservativste Astronom würde bestreiten, dass diese Galaxien Teil unserer physischen Realität sind, auch wenn wir sie nie werden sehen können. Auch sie sind aus den Nachwirkungen unseres Urknalls entstanden. Wieso sollten sie einen höheren epistemologischen Status geniessen als nicht beobachtbare Objekte, die aus anderen «Urknallen» entstanden sind? So betrachtet ist die Frage, ob es nun einen oder mehrere Urknalle gegeben hat, durchaus wissenschaftlich.
Wenn wir in einem Multiversum leben, dann impliziert das die vierte und grösste kopernikanische Wende.
Vor fünfzig Jahren waren wir nicht sicher, ob es überhaupt einen Urknall gegeben hat (einige Ewiggestrige bestreiten dies immer noch). Heute können wir mit einiger Sicherheit die Geschichte des Kosmos bis zurück zu jener ersten Nanosekunde beschreiben. So ist es auch nicht übertrieben optimistisch, zu hoffen, dass wir in fünfzig Jahren eine «einheitliche», von Experimenten und Beobachtungen in unserer Alltagswelt gestützte physikalische Theorie darüber haben werden, was in jenem ersten Billionstel eines Billionstels einer Billionstelsekunde geschah, als gemäss unseren Annahmen die Ausdehnung begann.
Wenn aufgrund dieser Erkenntnisse mehrere Urknalle möglich scheinen, dann sollten wir diese Annahme ernst nehmen, auch wenn wir sie nicht direkt verifizieren können. Schliesslich werden auch die Annahmen der allgemeinen Relativitätstheorie
Neue kopernikanische Wende
Wenn wir tatsächlich in einem Multiversum leben, dann impliziert das die vierte und grösste kopernikanische Wende. Nach der eigentlichen kopernikanischen Wende kam die Einsicht, dass in unserer Galaxie Milliarden von Planetensystemen existieren; dann diejenige, dass es im beobachtbaren Universum Milliarden von Galaxien gibt. Und das wäre im gesetzten Fall nicht alles: Das ganze Panorama, das unsere Astronomen beobachten, könnte nur ein kleiner Bruchteil dessen sein, was aus «unserem» Urknall entstand – und dieser wiederum wäre nur ein Ereignis in einem möglicherweise unendlichen Ensemble von Urknallen.
Am Ende dieses Jahrhunderts werden wir vielleicht in der Lage sein, mit einiger Sicherheit zu sagen, ob wir in einem Multiversum leben und wie unterschiedlich die Universen sind, aus denen es sich zusammensetzt. Die Antwort auf diese Frage wird entscheiden, wie wir das «lebensfreundliche» Universum zu verstehen haben, das uns beherbergt.
Martin Rees ist emeritierter Professor für Kosmologie und Astrophysik an der University of Cambridge und Fellow des Trinity College; zudem war er Präsident der Royal Society. Sein Buch «Das Universum» erschien 2006 auf Deutsch. Der Text beruht auf einem Aufsatz, den Rees für www.edge.org verfasst hat. – Aus dem Englischen von as.
Quelle
Lautlos ist die Wahrheit, wie der Staub in einem tönernen Gefäß, das Gefäß kann brechen, was bleibt ist die Wahrheit.....