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Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
#4
(14.08.2019, 08:33)Matthias schrieb: Das der Rationalismus einseitig ist, ist klar.

Dennoch hat mir mein Vater damals genau den richtigen Rat mit auf den Weg gegeben!

Karl Popper war für mich im Wissenschaftsdschungel der Garant für einen gesunden Verstand!

Denn wer im Nebel der Gefühle den Verstand verliert, der gerät in die Fänge der Manipulationskünstler!

Wenn es für Dich so funktioniert, okay. Zwei Dinge fallen mir auf:

1. Manipulationskünstler. Ich hab die längste Zeit meines Lebens eine völlig unsinnige und kranke Ansicht mit mir rumgeschleppt, die besagte, dass Manipulation etwas schlechtes ist und ich daher niemand manipulieren darf. Der Unsinn dabei ist, dass überall und ständig Manipulation passiert, und unser ganzes Zusammenleben darauf basiert (und anders gar nicht funktioniert). Ein Manipulationskünstler zu sein ist vielleicht sogar eine sehr gute Sache und ermöglicht einem, ein glücklicheres Leben zu führen - die Frage ist letztlich: wofür benutzt man es? Und das ist dasselbe wie mit einem Messer: damit kann man jemand umbringen, aber ist deshalb das Messer per se schlecht?
Die Frage ist dabei auch: wieviel Moral spielt mit? Idem: Manipulation ist allgegenwärtig, aber die, die in eine uns genehme Richtung zeigt, nehmen wir gar nicht erst als Manipulation wahr (sondern womöglich als "berechtigte Argumente"), während wenn sie in unerwünschte Richtung zeigt, verurteilt wird.
Und die Frage ist auch: kann man sich denn schützen? Manipulation gibt Macht über Menschen. Gewalt tut das auch. Das zweitere löst unsere Gesellschaft, indem sie Gewalt verbietet und eine Polizei etabliert. Somit können wir Gewalt aus unserem Leben ausklammern und brauchen uns nicht damit zu beschäftigen - jedenfalls solange die Gesellschaft funktioniert. Aber letzten Endes ist der, der lieber Kampfsport gelernt hat und somit Gewalt gar nicht erst fürchten braucht, besser beraten - denn der ist nicht davon abhängig, dass jemand anderes ihm das Problem vom Leib hält.
Ich denke, mit Manipulation ist es nicht anders - auch da ist der besser beraten, der von der Seite des Opfers auf die seite des (potentiellen) Täters wechselt, und sich so mehr Handlungsmöglichkeiten schafft.

2. Dein Tenor klingt mir ein bischen so, als wärst Du mit der heutigen vernunftdominierten Kultur m.o.w. einverstanden, so wie sehr viele andere es wohl auch sind - als wären unsere heutigen Errungenschaften, wenn vielleicht noch nicht das perfekte, so doch das beste praktikable von all dem was man schon ausprobiert hat.
Ich teile diese Ansicht nicht. Ich denke, das was wir hier und heute erreicht haben, ist vielleicht noch nicht die perfekte, aber schon eine sehr gute Annäherung an die Hölle auf Erden. (Und erschreckenderweise scheint das noch nichtmal irgendwie aufzufallen.)

Ich denke, das wissenschaftliche Denken fungiert für die meisten Menschen als Religionsersatz. Nachdem die technische Innovation ab etwa 1950 drastisch zugenommen hat, und gleichzeitig die Mobilität stieg, und dadurch die familiären Zusammenhalte und die Verwurzelung in Traditionen immer mehr verlorenging, und die etablierten Religionen keine Antworten hatten auf all das was neu auftauchte, hat sich die menschliche Psyche in ihrer Bedürftigkeit (die man nunmal nicht wegerklären kann - weder die Psyche noch die Bedürftigkeit) nach einem neuen System ausgetreckt, das Erklärungen liefert und den Menschen in seine Zeit einzubinden imstande ist.

Seitdem erleben wir diesen Quatsch, dass sich in den Medien zu allem und jedem, was irgendwie Thema ist, ein sog. Fachmensch äußert - und es ist genau dasselbe, als hätte sich früher ein Pfaffe dazu geäußert: das wird als nicht zu hinterfragende Autorität akzeptiert. Vor allem aber: wir selber werden dabei entmündigt. Sogar in Dingen, die gar nicht technisch sind, sondern uns selbst ganz unmittelbar betreffen -alltägliche Dinge, psychische Dinge, gesellschaftliche Dinge- gilt unsere ureigene Wahrnehmung nichts mehr, sondern es wird stattdessen irgendein bestallter Klugscheisser interviewt, der uns dann sagt, was wir gefälligst zu denken, zu empfinden, zu erleben haben. Und die Sache hat Konjunktur: es läßt sich ja kaum ein Konflikt mehr ohne ein Rudel von "Therapeuten" lösen. Wir mögen intellektuell und rational enorm viel wissen, aber wir sind praktisch nicht mehr überlebensfähig, weil wir nichtmal mehr unsere eigenen Gefühle verstehen, sondern dafür Spezialisten beauftragen müssen.
Und diese Spezialisten haben sich inzwischen gut eingerichtet und verstehen ihr Manipulationshandwerk, unter dem Deckmäntelchen des Demokratismus und der rationalen Wissenschaftlichkeit.

Endgültig und restlos aufgefallen ist mir das vor etwa zehn Jahren, als mir eine junge Dame erzählte, dass sie sich in jemand verliebt hat und daher jetzt ganz dringend zu ihrem Therapeuten muss, damit er ihr erklärt wie sie damit umgehen soll.

Ich hab an anderer Stelle dazu neulich einen kleinen Beitrag geschrieben, der sich gerade darum dreht - aus gegebenem Anlaß, allerdings Englisch. Dort machte man sich, wie es heute unter kritischen Geistern ja en vogue ist, große Sorgen über seine "Daten" und dass sie nicht in falsche Hände kommen (weil man dann ja "manipuliert" werden könnte): https://forums.freebsd.org/threads/where...ost-433678

Das Wesentliche in Kürze:
Das Primat der Vernunft bedeutet nichts anderes als eine Rechtfertigung für den Verzicht auf Ethik und menschliche Werte.
Wenn also Google sagt, man sammelt unsere Daten, um uns zu helfen, jenes Produkt zui kaufen das uns auch wirklich gefällt, dann ist das vollkommen vernünftig: wenn heute technische Mittel es ermöglichem, dem Menschen die Mühe abzunehmen, selber zu wissen was er will, dann ist es doch vollkommen vernünftig das zu tun!
Neulich bin ich in eine dieser Kundenzufriedenheitsumfragen geraten, und da wurde ich gefragt, bei welchen Online-Shops ich gern einkaufe. Und dann wurde mir ein dutzend weiterer Online-Shops präsentiert mit der Frage, warum ich nicht auch bei diesen einkaufe - und was man am "Kauf-Erlebnis" verbessern müsste, damit ich auch dort einkaufe.
Man scheint da also der Auffassung zu sein, dass das Kaufen ein Selbstzweck ist, und man sich dafür einsetzen muss, dass der Mensch die Möglichkeit erhält, bei so vielen Shops wie möglich ein tolles "Kauf-Erlebnis" zu haben. Vielleicht denkt man auch, dass Kaufen der einzig sinnvolle Lebensinhalt für einen Menschen wäre, idem: das einzige wofür er gebraucht wird.
Das ist natürlich auch vollkommen vernünftig, denn: was soll man sonst mit diesen vielen Menschen machen?

PolPot hatte noch den Aufwand, dass er ein oder zwei Millionen Brillenträger totschlagen musste, um das eigenständige Denken loszuwerden. Heute braucht man das nicht mehr. Heute hat man die Menschen dazu gebracht, freiwillig zu roboterisierten Konsumzombies zu regredieren, solange sie nur ein Smartphone haben - man braucht sich nicht mehr die Mühe machen, sie totzuschlagen - und man kann ihnen ja die demokratische Wahl lassen, ob sie bei Google oder Amazon kaufen wollen.

Man erzählt uns, der Faschismus und der Kommunismus wären ganz schreckliche menschenverachtende Irrwege (keine Frage, das sind sie), und deswegen wäre der Demokratismus und die Vernunft die einzige Option - und das ist falsch, denn diese sog. Vernunft ist um nichts weniger schrecklich: sie muss die Leute nicht totschlagen, weil die sich scheinbar freiwillig auf eine Stufe begeben noch unterhalb derer eines Tieres (denn ein Tier kennt seine Bedürfnisse) - und diesmal haben wir das Problem, dass das Spielchen gleich weltweit gespielt wird und man nirgendwohin mehr davonlaufen kann.


Zu Poppers "Falsifizierbarkeit": irgendein Esoteriker hat mal gesagt, diese Forderung klammert jegliche Erkenntnis von Wert aus. Und damit hat er recht. Ich glaube es war Nils Bohr, der gesagt hat: "Das Gegenteil einer trivialen Wahrheit ist schlichtweg falsch. Das Gegenteil einer großen Wahrheit ist ebenfalls wahr."
Eine große Wahrheit, mithin eine Erkenntnis, ist nicht falsifizierbar. (Und wenn Du an dieser Stelle erwiderst, dass damit ja dem Mißbrauch tür und tor geöffnet ist, dann antworte ich: richtig, so ist es. Genau so ist es aber auch bei allem anderen von Wert: bei jeder Droge, bei Sex, bei vielen Errungenschaften oder auch Vergnügungen. Wir müssen uns selber in den Stand versetzen, erkennen zu können, was uns gut tut.)

Und selbstverständlich gibt es einschlägige Machtstrukturen, die nichts weniger wünschen als Erkenntnis, weil sie nämlich die Kontrolle behalten wollen, und weil sie die Menschen im Zustand der Sklaverei belassen wollen: denn die Investitionen müssen sich lohnen.
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RE: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde - von Elevation Eight - 20.08.2019, 22:59

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