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Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
#6
(21.08.2019, 11:45)Matthias schrieb: Ich sehe mich selbst nicht als Kritischen Rationalisten, von daher fühle ich mich auch in keinster Weise verpflichtet, an dieser Stelle Karl Popper zu verteidigen.

Als Mathematiker muss ich aber doch betonen, dass eine Aussage als unwahr zu gelten hat, wenn sie falsifiziert worden ist!

Das dieses Gesetz so manchem Unwahrheitsverkünder nicht schmeckt, habe ich bereits zur Kenntnis genommen, das macht die Gesetzmäßigkeiten der Mathematik aber nicht weniger wahr!

Lieber Matthias,

innerhalb der Mathematik ist das auch völlig richtig! Was passiert aber, wenn wir aus der Mathematik herausgehen und die Gesetze der Mathematik meinetwegen auf Poesie anwenden? Das geht dann schief, denn in der Poesie sind mehrdeutige und sich widersprechende Aussagen völlig legitim und sogar ein bedeutsames Stilmittel.

Wir müssten also bei allem, was wir so betrachten, erstmal schauen womit wir es eigentlich zu tun haben. Die Mathematik tut das auch, und erklärt genau, welche Bedingungen für eine Aussage gelten. Andere tun das aber nicht.
Man könnte vielleicht sagen, die Mathematik ist eine art "geschützter Raum", in dem durch strikte und konsequente Anwendung von Disziplin das Chaos ferngehalten wird.

Die Philosophen aus der Schule Poppers wollen sich aber nicht auf die Mathematik beschränken, sondern sie beanspruchen Gültigkeit für alle Wissenschaft, oder womöglich sogar für alle Dinge des Lebens. Und sie tun das regelmäßig, ohne die genauen Bedingungen zu betrachten, und ohne zu schauen womit sie es zu tun haben.

Es gibt da zB eine Schule, die vor gut hundert Jahren entstanden ist, die sich Psychologie nennt, und die nun beansprucht, eine Wissenschaft zu sein. Der Bedingungsrahmen und die Voraussetzungen dieser Schule sind aber sehr beschränkt, denn sie betrachtet genaugenommen nur die Psychologie des bürgerlichen Mittelstandes in einer abendländischen Gesellschaft heutiger Zeit. Das freilich machen sich die Wenigsten bewusst.

In der Folgezeit sind dann eine ganze Horde sog. Sozial- und Gesellschaftslehren entstanden, die nun allesamt ebenfalls beanspruchen, Wissenschaften zu sein, Lehrstühle zu besetzen, und in den öffentlichen Einrichtungen als Autoritäten zu gelten. Deren Grundlagen und Voraussetzungen sind noch viel schlampiger angesetzt, sie sind noch mehr in kulturellen Tunnelrealitäten gefangen - aber sie wollen uns allen erzählen, wie wir zu denken haben!

Ich möchte Dir nun gern zustimmen insoweit, dass gerade die logische Betrachtung ein Werkzeug wäre, um diesen Wildwuchs einzudämmen. Man könnte zB aufzeigen, dass die psychologischen Thesen für Menschen bestimmter anderer Kulturen so nicht funktionieren und da also falsch sind. Aber wie könnte das praktisch gehen? Man kann ja eine Gesellschaft nicht auf den Experimentiertisch legen und Versuche durchführen?

Zitat:Sein Postulat, dass es dem Menschen grundsätzlich nicht möglich sei, absolute Wahrheiten zu finden, teile ich dagegen nicht. Die Frage, auf welchen Wegen diese Wahrheiten gefunden werden können, ist aber keineswegs trivial und durchaus eine lohnende Beschäftigung für eine sehr lange Meditation. Eine Wahrheit einfach nur zu glauben, ist es auf jeden Fall nicht!


Das hast Du wunderbar gesagt. Es ist nich trivial und es ist lohnend. Deswegen bin ich ja so enttäuscht und frustriert, dass nahezu unsere ganze Kultur sich auf dumme und unbefriedigende Theorien stützt und diese als Glaubenssätze annimmt - nur um dann mit den Ergebnissen unzufrieden zu sein und sich zum Ersatz auf noch unbefriedigendere Thesen zu stürzen. 

Als man in den 1960ern angefangen hat, die bisherige bürgerliche Ordnung in frage zu stellen, hat man zum Teil brilliante und weitreichende Ansätze gefunden, um die Dinge besser zu erklären. Diese Ansätze waren freilich noch lückenhaft, unausgegoren und haben sich so letztlich als nicht praxistauglich erwiesen. Das heisst aber nicht, dass sie falsch waren - vielmehr wäre es erforderlich gewesen, durch sorgfältige Betrachtung und Analyse da die -reichlich vorhandene- Spreu vom Weizen zu trennen.
Das aber ist nicht passiert, stattdessen haben die Kräfte der Dekadenz, der Besitzstandswahrung und des Weiterwurschtelns sich zu etablieren begonnen.

Zitat:Könnte man darüber nachdenken, ob man bei den großen Wahrheiten an eine Grenze stößt, die das Gebiet der Logik verlässt.


Die Sache ist die - um Logik zu betreiben, braucht es Begrifflichkeiten: wenn man sich über die verwendeten Begriffe nicht einig ist, ist kaum eine Logik anwendbar.
Nun ist es aber eine sogar recht einfache und gängige Übung in der Meditation, an einen Punkt zu gelangen, wo die Begriffe ihre Bedeutungen verlieren. Es ist ein Punkt, an dem unser semantisches Zentrum seine Arbeitsweise offenbart, und wir ansatzweise erkennen können, dass Sprache eine kulturelle Errungenschaft ist.
Ich zitiere mal Rodney Orpheus, Abrahadabra - Thelemische Magie für Anfänger, wo diese (und viele andere) Effekte verständlich beschrieben sind:
Zitat:Such Dir ein zufälliges Wort, irgendein Wort (Du kannst ein Buch benutzen - schlag es einfach irgendeiner Seite auf und nimm das erste Wort, das Dir ins Auge fällt). Fang nun an, dieses Wort zu wiederholen, zuerst laut, dann leise. Wiederhole es immer und immer wieder, ohne aufzuhören. Mach das mindestens fünfzehn Minuten. Das Wort wird anfangen für Dich ziemlich eigenartig zu werden. Während Du es weiterhin wiederholst, wird es durch verschiedene Zustände der Bedeutung (oder Un-Bedeutung) für Dich hindurchgehen. Es gibt verschiedene Theorien, warum das so ist, aber das wichtige für unsere Absicht ist, daß diese Wiederholung einen höchst interessanten Effekt auf unser Hirn hat.

Und ab diesem Punkt ist Logik, wie wir sie üblicherweise anwenden, nicht mehr sonderlich tragfähig.

Zitat:Da wäre ich aber äußerst vorsichtig und sich mit dieser Frage zu befassen, würde ich auch nur jemandem empfehlen wollen, der die Gesetze der Logik zu 100% beherrscht! Wie Du schon sagst, so etwas einfach so zu postulieren und dann als Rechtfertigung für jeglichen Mist zu missbrauchen  ......


Und da haben wir einen der Punkte, warum die Weisheitsschulen über all die Jahrhunderte geschlossene Gesellschaften waren, und recht wählerisch dahingehend, wen sie aufnehmen. Du kannst tatsächlich alles als Rechtfertigung für jeden Mist hernehmen, und es läuft hinaus auf das Bonmot "nichts ist wahr, alles ist erlaubt".
Die entscheidende Frage ist dann: welche charakterlichen Qualitäten sind erforderlich, um mit einem solchen Leitsatz angemessen umgehen zu können? Und das möchte ich da nicht auf Logik beschränken, sondern eine konsequente Arbeit der Selbsterkenntnis verlangen, der Klarheit über die eigenen Motive. Und das ist erst der Anfang.
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RE: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde - von Elevation Eight - 21.08.2019, 15:42

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