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Erfüllung und Vernachlässigung
#1
Hallo Menschen,

vor einigen Tagen fuhr ich im Auto, es war Nacht, dunkel, kalt und glatt. Zuvor saß ich bei einem Freund und habe mein Leid geklagt. Und zwar in der Form, als ich das Gefühl hätte, immerzu um Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen, erst recht aber darum, mit meinen Bedürfnissen gesehen werden.  Mir kam da der wertstarke Begriff "Vernachlässigung" in den Sinn. Und sofort begann ich zu anzuklagen und zu veruteilen.

Die Autofahrt dauerte etwa 30 Minuten. Eine kurze Strecke führte über eine Bundesstraße. Dort fuhr mir jemand dicht auf, was ich hasse. Ich fühlte mich provoziert, hielt mich jedoch zurück und machte Platz, damit er vorbeiziehen konnte. Etwas später dasselbe Spiel. Nur dass diesmal der Fahrer hinter mir so dicht auffuhr, dass sich die Stoßstangen zu berühren drohten. Sein Licht war hell und impertinent. Ich entwickelte heftiges Herzrasen und berstende Wut. Er blieb derweil an mir kleben, obzwar er problemlos hätte überholen können. Nach einer kurzen Weile bremste ich ihn herunter, entschlossen, ihn beim Stillstand aus dem Auto zu zerren. Durch mich wirkte eine schockierende Kraft, die tiefen Frust in bebenden Jähzorn verwandelte.

Ich denke, er hat das gespürt. Ich kann nicht viel über diese Person sagen, außer dass sein Fahrstil rücksichtslos, aggressiv und kleingeistig wirkte. Jedenfalls war er wohl etwas überrumpelt. Er zog an mir vorbei und ich lichthupte stakkatoartig hinter ihm her. Darauf bremste er hektisch und fuhr über einen schlecht einsehbaren Feldweg ab. Offenbar hatte er die Flucht ergriffen.

Mein Herz kasperte und mir standen Tränen in den Augen. In letzter Zeit hatte ich häufiger die Beherrschung verloren und war jemand geworden, der nicht meinem Naturell entspricht. Ich bin friedliebend, sanft und zurückhaltend. Diese Ausbrüche konterkarieren meine Eigenschaften jedoch. Ich lockerte den Griff um das Lenkrad, ließ erst zu, dann los. Ich greinte und wurde von der mir bekannten tiefschwarzen Trauer übermannt, die ich mal als nicht von dieser Welt bezeichnet hatte. Dann habe ich gebetet. Ich adressierte das Gebet an niemanden. Ich schickte es einfach durch den Raum. Es war mehr ein Beichten, mehr ein den Gefühlen Ausdruck verleihen, ein trauriges Bitten auch. Ich sah mich in meiner Vernachlässigung. Sah, dass ich suchtkrank bin und vieles tue, um mich mit Substanzen, Bildern oder Anderem aufzufüllen. Und gelangte so zu dem ausdrucksvollen, mit vielen Konnotationen benetzten Begriff "Erfüllung". Ich weiß nicht mehr, wie ich und was ich alles gedacht habe. Auf jeden Fall gelangte ich von der Empfindung vernachlässigt zu sein zur Erkenntnis, dass ich dagegen den Habitus "patholigischer Auffüllung" entwickelt hatte, als Bandagierung eines mächtigen Mangelgefühls sozusagen. Ich sei nicht nur auf- sondern überfüllt. Und der Grund dafür lag plötzlich glasklar vor mir: Fremdstoffe, Nichteigenes, Herbeigezerrtes, Kurzlebiges, bisweilen Kontaminierendes - damit füllte ich mich auf, nicht aber mit dem Wesentlichen, dem Eigentlichen, dem, was mein geliebter Sir Thomas Brown vor hunderten Jahren mit mystischer Präzision auszudrücken verstand:

If thou couldst empty all thyself of self,
Like to a shell dishabited,
Then might He find thee on the Ocean shelf,
And say — "This is not dead," —
And fill thee with Himself instead.

- mit mir.
Erfüllung ist mein Urbedürfnis. Oft hab ich mich leer gemacht. Buddhas Anweisungen gefolgt und ganze Ich-Festungen in mir abgerissen. Charaktermüll entsorgt. Dass aber nichts als ein um Muttermilch flehendes Ego zurückbleibt, hat mir keiner gesagt. Dass es sich an allem nährt, was feilgeboten wird und sei es dem Bewusstsein, krank und vernichtet zu sein, ebenfalls nicht. Ich habe mich selbst voll und ganz vernachlässigt. War aufgequollen, grob und dumpf. Und das prägte meine Begegnungen, färbte soziale Interaktionen und schreckte Mitmenschen ab, nach denen ich mich so sehr sehnte. Um ihnen mich schmackhaft zu machen, brauchte ich nur - mich. Irre.

Am nächsten Tag mäanderte ich konzentriert und achtsam durch einen kleinen Wald, den ich sehr gern habe. Während ich das tat und überwiegend Vogelgezwitscher lauschte und Baumstämme betrachtete, konnte ich plötzlich mein Ego fühlen. Ein Ich-Empfinden, dass sich inmitten der ganzen Bewegung, des ganzen Werden- und Vergehen produzierte, und reagierte und wieder neu produzierte und ständig Meldung gab. Ich konnte es zum ersten Mal als einen eigenständigen Bereich empfinden und sah, dass alles, was ich dazu nun dachte, auch alles, was ich darüber mal berichten werde - wie diesen Text zum Beispiel - aus ihm hervorgeht und Richtungen vorgibt, Türen schließt, einschränkt. Das war aufregend, überwältigend und absolut rührend. Denn ich weiß, dass ich mein Ego brauche, zum einen für diese Erfahrung, zum anderen für die soziale Existenz, aber für mich gilt seither: Ich habe ein Ego. Das Ego hat nicht mich. Es ist mein Tool, mein Werkzeug. Es darf in meinem Bewusstseinsraum stattfinden, darf Meldung geben, darf auch mal kreischen und meckern. Aber es darf mich nicht aus mir selbst herauszerren und an ein Ereignis ketten. Ich glaube, das ist der Weg. Der Eigentliche.

Ihr seid Wunder. Alle.

Melvin
The whole man must move together. 
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#2
Hallo lieber Melvin,

Ich denke Du bist nicht der Einzige dem es so ergeht, es braucht schon eine Menge Erfahrung, sich nicht mehr provozieren zu lassen von solchen Dingen, die uns ja allen begegnen!

Ich wünsche Dir erst mal hier, ein gesundes neues Jahr, auch von Isabelle!

Liebe Grüße

Eik
Lautlos ist die Wahrheit, wie der Staub in einem tönernen Gefäß, das Gefäß kann brechen, was bleibt ist die Wahrheit.....
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#3
Hallo Melvin,

solche Ausbrüche, wie Du sie beschreibst kenne ich aus meiner eigenen Vergangenheit sehr gut.

Die meisten Menschen kennen mich wohl auch als einen eher friedfertigen, ruhigen und ausgeglichenen Menschen, es gab aber auch bei mir immer wieder Situationen in meinem Leben, die mich zunächst heillos überfordert haben.

In den Situationen selber habe ich die aufkeimende Wut meistens erst mal unterdrückt, was aber dazu führte, dass sie sich in meinem Inneren festsetzen konnte und unbemerkt mein weiteres Leben bestimmte.

Wut und Aggression wollten lange Zeit auch gar nicht zu meinem schönen Selbstbild passen.

Auch dass unser Ego ein zu überwindender Übeltäter ist wurde mir schon als Kind immer wieder eingebläut.
Das führte dazu, dass ich versuchte mein Ego so gut es mir möglich war zu verdrängen.

Der beste Weg es niemals los zu werden!

In Ruhe betrachten, was einem unlieb ist, das bringt einen weiter!

Liebe Grüße
Matthias
Nicht die Jahre in unserem Leben zählen, sondern das Leben in unseren Jahren zählt. (A.E. Stevenson)
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#4
(06.01.2019, 15:45)Matthias schrieb: Hallo Melvin,

solche Ausbrüche, wie Du sie beschreibst kenne ich aus meiner eigenen Vergangenheit sehr gut.

Die meisten Menschen kennen mich wohl auch als einen eher friedfertigen, ruhigen und ausgeglichenen Menschen, es gab aber auch bei mir immer wieder Situationen in meinem Leben, die mich zunächst heillos überfordert haben.

In den Situationen selber habe ich die aufkeimende Wut meistens erst mal unterdrückt, was aber dazu führte, dass sie sich in meinem Inneren festsetzen konnte und unbemerkt mein weiteres Leben bestimmte.
Und das war falsch,lieber Matthias, auch eine Wut will erkannt werden....,sich selbst ein schönes Selbstbildnis schaffen verzögert sehr lange den Prozeß zur inneren Gelassenheit.
Wenn du die Wut nicht erkennst,woher willst du wissen,wie sich Fröhlichkeit anfühlt?

Wut und Aggression wollten lange Zeit auch gar nicht zu meinem schönen Selbstbild passen.

Auch dass unser Ego ein zu überwindender Übeltäter ist wurde mir schon als Kind immer wieder eingebläut.
Das führte dazu, dass ich versuchte mein Ego so gut es mir möglich war zu verdrängen.

Der beste Weg es niemals los zu werden!
Das ist auch Selbsttäuschung.....für was brauchst du ein Ego,auf diesem Weg der Erkenntnis?
Du bist innerlich nur frei,wenn du dir alles angeschaut hast ,um es dann ..ABZULEGEN"

In Ruhe betrachten, was einem unlieb ist, das bringt einen weiter!
Das passt dann schon eher....in Ruhe betrachten,um es abzulegen....mann nennt das auch...Licht wie auch Schatten ansehen und zu akzeptieren.
Ohne Licht findest du auch keinen Schatten...

Niedrige Werte gelten,um erkannt zu werden...,nur dann kann man sie auch ablegen...
Der wahre Zauber daran ist wiederrum die Erkenntnis...alles ist....nichts muss....phaeton Heart Heart Heart

Liebe Grüße
Matthias
Die Augen eines Wolfes öffen dir das Tor zum Ursprung,so öffne dein Herz und du wirst wissen...Erkenntnisse sind der Weg zur Weisheit...
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#5
Liebe Phaeton,

mittlerweile ist mir das so auch alles klar, aber dieses Leben war für mich wohl dazu bestimmt mich erst einmal ziemlich zu verwirren.

Juliane hat mir mal gesagt, sie würde bei mir als Problem sehen, dass ich ein guter Mensch sein wolle.

Das habe ich damals überhaupt nicht verstanden, weil ich das für eine überaus noble Einstellung hielt. Aber das beschreibt tatsächlich ganz gut das Problem, in dem ich lange verhaftet blieb. Obwohl ich relativ freiheitlich aufgewachsen bin und mir auch schon als Kind relativ früh Gedanken der Erkenntnis zugänglich waren, war meine Erziehung doch eher von ethischen Verhaltensvorschriften und hohen Idealen geprägt. Im Rückblick sehe ich mein Aufwachsen in diesem speziellen Umfeld daher eher etwas zwiespältig.

Schon als Kind habe ich den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zwar gesehen, war aber noch nicht in der Lage das dahinter liegende Kernproblem wirklich zu durchschauen. So habe ich mich über meine Lehrer nur beklagt und wollte nur irgendwie besser sein. So was wie Schatten hatten da in meinem Denken noch lange keinen Platz.

Vielleicht war es da ganz gut, dass ich dann erst mal richtig Krank geworden bin [Bild: wink.png]
Wer weiß, wo ich mich sonst noch hin verirrt hätte [Bild: aegypten_smilies_0013.gif]

Sicher nicht der Idealweg, aber die Krankheit hat mir letztendlich geholfen, all das ans Licht zu befördern, was ich zunächst so nicht sehen wollte. Vermutlich habe ich diesen dicken Knüppel gebraucht und um ganz ehrlich zu sein, wollte ich auch erst einen etwas abenteuerlichen Umweg machen [Bild: rolleyes.png]

Mittlerweile ist mein Bedarf an spektakulären Abenteuern aber restlos gedeckt und ich bin froh wieder zu meiner ruhigen und ausgeglichenen Ausgangspersönlichkeit zurückgefunden zu haben.

Denn ohne Ruhe und Ausgeglichenheit geht wahre Erkenntnis am Ende nicht. Aber dahin musste ich erst wieder kommen, was wirklich nicht einfach war.

Heute auch mit einem Lächeln
[Bild: heart.png][Bild: heart.png][Bild: heart.png]
Nicht die Jahre in unserem Leben zählen, sondern das Leben in unseren Jahren zählt. (A.E. Stevenson)
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#6
(14.01.2019, 22:56)Matthias schrieb: Liebe Phaeton,Lieber Matthias

mittlerweile ist mir das so auch alles klar, aber dieses Leben war für mich wohl dazu bestimmt mich erst einmal ziemlich zu verwirren.
Es ist eines jeden eigener Gedanke,wie er das Problem in seinem Leben nennt,beim Entwirren kommt die Klarheit,die letztendlich zur Wahrheit wird....siehe Erkenntnis
Juliane hat mir mal gesagt, sie würde bei mir als Problem sehen, dass ich ein guter Mensch sein wolle.
Da wird sie schon Recht gehabt haben,denn auch ich sehe das so....zu schnell ein Gutmensch sein zu wollen,bedeutet noch mehr Stolpersteine.
Wenn du dir den Thomastext anschaust und auch alles aus dieser Fülle von Informationen verstehst,dann weißt du,konnte Joshua dieses auch nicht von heute auf morgen erreichen....dass beschreibt ein langes Leben voller Schatten,die aus dem Licht gefallen sind.
Dennoch fügt sich alles mit der Zeit wie ein riesiges Puzzle zusammen...
Ein guter Mensch, der alle negativen Eigenschaften "abwirft",nun,manche brauchen ein ganzes Lebenlang und Andere
beginnen sehr früh zu begreifen...

Das habe ich damals überhaupt nicht verstanden, weil ich das für eine überaus noble Einstellung hielt. Aber das beschreibt tatsächlich ganz gut das Problem, in dem ich lange verhaftet blieb. Obwohl ich relativ freiheitlich aufgewachsen bin und mir auch schon als Kind relativ früh Gedanken der Erkenntnis zugänglich waren, war meine Erziehung doch eher von ethischen Verhaltensvorschriften und hohen Idealen geprägt. Im Rückblick sehe ich mein Aufwachsen in diesem speziellen Umfeld daher eher etwas zwiespältig.
Was sich hier in diesen Worten ganz deutlich zeigt....nicht du hast bestimmt,über dich ist bestimmt worden...
Es ist meistens so,dass man als Kind von den Eltern so dermaßen geprägt wird,dass man weder nach rechts noch nach links mehr schaut...
Du hast den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zwar gesehen,gefühlt,wahrgenommen,doch dein geprägtes Denken ließ nichts anderes zu,als dass,was deine Umwelt von dir erwartet hat.

Das ist nun der Unterschied zu mir. Ich wusste das schon sehr früh,mal grade 2 Jahre alt war und wusste,dass ich einen anderen,eigenen Weg gehen musste,um überhaupt zu überleben.
Ich ließ mich auch nicht in ein Muster stecken,nein,dass Wissen über die Wirklichkeit vermischte sich nicht mit dem,was tatsächlich um mich herum geschah...es war Fakt und kein Denken eines "Kleinkindes",denn man muss ja auch
Kindsein tatsächlich erfahren dürfen und ist das nicht der Fall....was bleibt dann noch?
Du bist zu früh erwachsen und längst läuft man in den Schuhen,wie einst eben Joshua....diesen beschwerlichen,steinigen Weg voller Höhen und Tiefen.
Kennt ja jeder den Spruch....:"In deinen Schuhen möchte ich nicht gehen"! Oder anderstrum:"Lauf du erstmal in meinen Schuhen,dann weißt du,was das Leben dir zu sagen hat!"


Schon als Kind habe ich den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zwar gesehen, war aber noch nicht in der Lage das dahinter liegende Kernproblem wirklich zu durchschauen. So habe ich mich über meine Lehrer nur beklagt und wollte nur irgendwie besser sein. So was wie Schatten hatten da in meinem Denken noch lange keinen Platz.

Vielleicht war es da ganz gut, dass ich dann erst mal richtig Krank geworden bin [Bild: wink.png]
Wer weiß, wo ich mich sonst noch hin verirrt hätte [Bild: aegypten_smilies_0013.gif]

Sicher nicht der Idealweg, aber die Krankheit hat mir letztendlich geholfen, all das ans Licht zu befördern, was ich zunächst so nicht sehen wollte. Vermutlich habe ich diesen dicken Knüppel gebraucht und um ganz ehrlich zu sein, wollte ich auch erst einen etwas abenteuerlichen Umweg machen [Bild: rolleyes.png]
Das kann direkt bejahen,denn auch ich bin so richtig krank geworden,aber auch hier hieß es,Ärmel hochkrempeln,der Kampf des Lebens geht weiter....Zeit auszuruhen findet man auch in jener Zeit nicht.
Der Rückzug in ein viel friedlicheres Dasein,war schon immer vorhanden,dass kann man durchaus als Glück bezeichnen,denn die Natur ist alles,was du über Licht und Schatten erfahren kannst/ DARFST

Mittlerweile ist mein Bedarf an spektakulären Abenteuern aber restlos gedeckt und ich bin froh wieder zu meiner ruhigen und ausgeglichenen Ausgangspersönlichkeit zurückgefunden zu haben.

Denn ohne Ruhe und Ausgeglichenheit geht wahre Erkenntnis am Ende nicht. Aber dahin musste ich erst wieder kommen, was wirklich nicht einfach war.
Das ist deine größte Erkenntnis und schön,dass du wieder lächeln kannst... Heart Heart Heart phaeton
Heute auch mit einem Lächeln
[Bild: heart.png][Bild: heart.png][Bild: heart.png]
Die Augen eines Wolfes öffen dir das Tor zum Ursprung,so öffne dein Herz und du wirst wissen...Erkenntnisse sind der Weg zur Weisheit...
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